Ausgabe zur K 2019

22 EUROPÄISCHE KUNSTSTOFFINDUSTRIE TEXT & GRAFIK: MESSE DÜSSELDORF GMBH STOCKUMER KIRCHSTRASSE 61, 40474 DÜSSELDORF D ie deutsche Wirtschaft, eigentlich der Motor Europas, befindet sich in einer derzeit eher angespannten Situation. In den letzten Monaten sind sowohl die Exporte als auch die Importe des Landes zurückgegangen. Eine Umfrage unter Führungs- kräften in der Industrie ergab, dass die Produktionsaktivität im März noch unter den ohnehin schon pessimistischen Erwartungen lag. Analysten des Informationsdienst- leisters IHS Markit kamen zu dem Schluss, dass sich das verarbeiten- de Gewerbe in Deutschland „ein- deutig in einer tiefen Rezession befindet“. Damit ist Deutschland nicht allein. In Italien beispiels- weise steigt die Arbeitslosigkeit wieder. Der durchschnittliche Ein- kaufsmanagerindex (EMI) für die Eurozone, bestehend aus den 19 Ländern, die den Euro als Währung nutzen, ist nun sogar unter den (neutralen) Wert 50 gefallen. Von den vier größten Volkswirtschaf- ten befindet sich nur Spanien in einer guten Position. Einige Ana- lysten erwarten dennoch ein wenn auch nur geringfügiges Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in der Eurozone. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals ist das ver- arbeitende Gewerbe im Vereinig- ten Königreich im März so schnell gewachsen wie seit über einem Jahr nicht mehr. Das liegt aller- dings hauptsächlich daran, dass Produktionsstätten angesichts des Brexits Waren horten. Laut Oliver Möllenstädt, Haupt- geschäftsführer des Gesamtver- bands Kunststoffverarbeitende Industrie e.V. (GKV), sei der Um- satz der kunststoffverarbeitenden Industrie in Deutschland im ver- gangenen Jahr eigentlich sogar um über 3 % gestiegen – und damit etwa doppelt so schnell gewachsen wie das BIP. „Das ist bemerkens- wert angesichts dessen, dass sich die Wirtschaft in einem zunehmend ungewissen internationalen Umfeld bewegt“, so Möllenstädt. Doch das solide Wachstum in weiten Teilen der Industrie „darf nicht über die Tatsache hinweg- täuschen, dass die Kunststoffindu- strie vor großen Herausforderungen steht. Die Debatte über Kunststoff in der Umwelt, die in den Medien und der Öffentlichkeit teilweise sehr emotional ist, hat erhebliche Folgen für Kunststoffverarbeiter.“ Laut Möllenstädt gehe aus der jähr- lichen Unternehmensbefragung des GKV hervor, dass die große Mehr- heit der Unternehmen betroffen sei. „Aus unserer Sicht entwickelt sich die politische und öffentli- che Debatte bisher in die falsche Richtung“, so Möllenstädt. „Die EU-Kommission und die Regierun- gen der einzelnen Länder versu- chen, mit symbolischen Gesten, wie der Einschränkung der Nutzung von Einwegkunststoff (SUP) und Plastiktüten, auf die Bedenken der Verbraucher einzugehen. Die- se Vorgehensweise mag zwar die öffentliche Diskussion auf kurze Sicht beruhigen und den Eindruck vermitteln, dass viel getan wird, doch im Hinblick auf die Umwelt und Nachhaltigkeit zeigt sie nicht die gewünschte Wirkung.“ Der Kunststoffindustrie in Eu- ropa „droht ein böses Erwachen“, meint Martin Wiesweg, Leiter des Bereichs für Chemikalien (PS, EPS und PET) bei IHS Markit. „Die Branche verzeichnete jahrelang ein gemäßigtes und doch bestän- diges Wachstum sowie solide Erträ- ge, leistete einen herausragenden Beitrag zu Produkt- und Prozes- sinnovationen und der Schaffung von Arbeitsplätzen und bereicher- te das Leben der Menschen durch Zweckmäßigkeit, Komfort und Ästhetik. Doch sie verliert zuneh- mend die Gunst der Öffentlichkeit. „Grund für diese Dissonanz ist die große Kunststoffabfallproblema- tik. Verbraucher und Behörden in Europa gehen immer schneller und verschärfter Hand in Hand gegen Kunststoffe vor und ergreifen um- fassende Maßnahmen, um deren Nutzung einzuschränken und eine strikte Abfallhierarchie zu befol- gen“, so Wiesweg. „Die Tatsache, dass die Behörden bereit sind, das Risiko einzugehen, Verbrauchern erhebliche Kosten und Unannehm- lichkeiten zu verursachen, zeigt, wie sehr die positive Haltung der Öffentlichkeit gegenüber Kunst- stoffen bröckelt.“ Richtlinie zur Beschränkung von Einwegkunststoff Das EU-Parlament stimmte im März der SUP-Richtlinie zu. Sie wird voraussichtlich bis 2021 in den Mitgliedstaaten umgesetzt. Die Richtlinie betrifft die zehn Objekte, die am häufigsten an den Stränden der EU zu finden sind. Zu den Maßnahmen zählt ein Verbot von ausgewählten Ein- wegkunststoffprodukten, zu denen der Markt Alternativen bietet, wie Wattestäbchen, Besteck, Teller, Strohhalme, Rührstäbchen, Be- cher, Lebensmittelbehälter aus expandiertem Polystyrol (EPS) und alle Produkte aus oxo-abbaubarem Kunststoff, sowie von Luftballon- stäben. Die Richtlinie setzt da- rüber hinaus das Ziel, dass 90 % der Kunststoffflaschen bis 2029 getrennt gesammelt werden (77 % bis 2025). Mit der Richtlinie werden auch Gestaltungsvorga- ben eingeführt, laut denen Deckel an Flaschen zu befestigen sind. Außerdem werden Ziele für den Gehalt an Recyclingkunststoff ge- setzt: Ab 2025 sollen PET-Flaschen zu 25 % aus recyceltem Material bestehen und ab 2030 sollen alle Plastikflaschen 30 % Recyclingma- terial enthalten. PlasticsEurope, der Verband der europäischen Kunststofferzeuger, sagte, er begrüße die Annahme der Richtlinie und die Bekräfti- gung, „dass die Abfallbekämpfung in der gemeinsamen Verantwor- tung der zuständigen Behörden, Produzenten und Verbraucher liegt.“ Der Verband fordert, um- gehend Leitfäden zu Definitionen und Kategorien auszuarbeiten, um zu verhindern, dass die einzelnen EU-Mitgliedstaaten die Begriffe womöglich unterschiedlich ausle- gen. Die Richtlinie folgte auf die Anfang 2018 durch die EU-Kom- mission veröffentlichte „Europä- ische Strategie für Kunststoffe in der Kreislaufwirtschaft“. Diese ent- hält Pläne, wie man Abfälle ein- dämmen, das Einbringen von Ab- fällen ins Meer aufhalten und das Kunststoffrecycling für EU-ansäs- sige Unternehmen wirtschaftlicher gestalten kann. Bis 2030 müssen alle Kunststoffverpackungen auf dem EU-Markt recycelbar sein. Alexandre Dangis, Geschäfts- führer des Verbands europäischer Kunststoffverarbeiter (EuPC) mit Sitz in Brüssel, äußert sich sehr negativ über die kürzlich ergrif- fenen rechtlichen Maßnahmen zur Beschränkung von Kunststoffen. „Die Vorteile von Kunststoff wer- den viel zu oft vernachlässigt“, so Dangis. „Kunststoffe unterstützen uns im Kampf gegen den Klima- wandel, denn mit ihnen können wir den CO2-Ausstoß in allen Be- reichen unseres Lebens senken. Sie ermöglichen unter anderem die Vermeidung von Lebensmit- telabfällen, den Leichtbau und die Wärmedämmung. Der Kreislauf von Kunststoff ist ein wichtiges The- ma für die Kunststoffindustrie und sie unternimmt große Anstren- gungen, um sich dahingehend zu verbessern.“ Dangis betont, es hätten zahlreiche Verbände und Unternehmen zugesichert, mehr Kunststoffabfälle zu recyceln und vermehrt recycelte Polymere ein- zusetzen. Die EU gibt vor, dass zwischen 2025 und 2030 jährlich 10 Milli- onen Tonnen recycelte Polymere verwendet werden sollen. Um die Fortschritte der Industrie bei der Erreichung des Ziels zu überwa- chen und zu registrieren, lancierte der EuPC kürzlich die Onlineplatt- form MORE (MOnitoring Recyclates for Europe). „Mit dem zentralen Onlinetool MORE wird künftig an einem Ort überwacht, wie viele recycelte Polymere bei europäi- schen Kunststoffverarbeitern ihren Weg in neue Produkte finden“, so Dangis. „So kann die Industrie ihre Anstrengungen deutlich ma- chen und konsolidierte Zahlen zur EU-weiten Verwendung von Rezy- klaten nennen.“ Um die ambitio- nierten Ziele der EU zu erreichen, muss die Qualität von Rezyklaten verbessert werden. Studien des EuPC aus den Jahren 2017 und 2018 zufolge haben Kunststoffver- arbeiter aktuell Schwierigkeiten, eine geeignete Bezugsquelle für recycelte Polymere zu finden. Vor fast drei Jahren, auf der K 2016, riefen der EuPC, PlasticsEu- rope und Plastics Recyclers Europe die Polyolefin Circular Economy Platform (PCEP) ins Leben. Vene- tia Spencer, Secretary General der Initiative, beschreibt sie als Fo- rum für gemeinsame Anstrengun- gen, das alle Akteure im Bereich der Polyolefine an einem Strang ziehen lässt, um einen Wandel in unserer Industrie zu bewirken und die Kreislaufwirtschaft voranzu- bringen. „Alle Beteiligten entlang der gesamten Wertschöpfungsket- te können Mitglied unserer Initi- ative werden – von Herstellern, Verarbeitern, Recyclingbetrieben, Markeninhabern, Einzelhändlern und Unternehmen der Abfallwirt- schaft bis hin zu allen übrigen Akteuren, die an einem beliebigen Punkt mit dem Materialkreislauf in Berührung kommen“, so Spencer. PCEP sagte zu, den Gehalt an re- cycelten Polyolefinen in europäi- schen Produkten um eine Million Tonnen zu steigern. Das ist die größte Zusage, die im Rahmen der Selbstverpflichtungskampagne der EU getroffen wurde. Ziel die- ser Kampagne ist es, dass durch freiwillige Maßnahmen seitens der Industrie im Jahr 2025 in Europa 10 Millionen Tonnen Rezyklate in Produkten verwendet werden. „Wir wollen außerdem bis 2030 60 % der gesammelten Polyolefin-Ver- packungen wiederverwenden oder -verwerten und über 75 % der Po- lyolefin-Verpackungen recycelbar gestalten“, so Spencer. „Die Umstellung von der heu- tigen Linearwirtschaft auf ein regeneratives System ist eine komplexe Herausforderung. Sie erfordert Innovationen und die Zusammenarbeit auf Seiten der Industriepartner“, meint der Polyolefin-Hersteller Borealis, dessen Produktionsstätten sich überwiegend in Europa befinden. Borealis bietet nach eigener Aus- sage vielfältige Lösungen für die neue Kreislaufwirtschaft an. Das Unternehmen packte den Stier bei den Hörnern und konzentriert sich seit den letzten Jahren stärker auf das werkstoffliche Recycling. So kaufte das Unternehmen 2016 beispielsweise zwei der größten europäischen Betriebe in diesem Bereich auf, die nun unter dem Namen mtm plastics bekannt sind. Vergangenes Jahr wurden diese beiden Übernahmen um den Kauf eines weiteren führenden Recyc- lingunternehmens, Ecoplast, er- weitert. Borealis entwickelte in diesem Bereich unter anderem die Full-PE-Laminat-Lösung, eine Mo- nomateriallösung für flexible Ver- packungen auf Polyethylenbasis, die sich gut recyceln lässt. Chemisches Recycling auf dem Vormarsch Dass das chemische Recycling zunehmend wichtiger wird, spie- gelte sich diesen Januar auch in der Gründung eines neuen Ver- bands, Chemical Recycling Europe (ChemRecEurope), wider. Dieser soll neue, innovative Lösungen fördern und umsetzen. „Die Ent- wicklung von Technologien für das chemische Recycling, die eine Lösung für schwer recycelbare Kunststoffabfälle bieten, schreitet schneller voran als die Gesetzge- bung und Politik darum herum“, so ChemRecEurope. Im Dezember unterzeichnete SA- BIC, ein großer Materiallieferant, mit Plastic Energy, einem im Verei- nigten Königreich ansässigen Vor- reiter für die chemische Verwertung von Kunststoffen, eine Absichts- erklärung über die Rohstoffver- sorgung für die petrochemischen Prozesse bei SABIC in Europa. Die beiden Unternehmen beabsichti- gen, eine kommerzielle Anlage in den Niederlanden zu errichten, in der durch das Wiederverwerten und Aufbereiten von minderwertigen Mischkunststoffabfällen, die sonst verbrannt oder deponiert werden würden, ein von Plastic Energy patentierter Rohstoff namens Ta- coil hergestellt wird. Die Anlage wird ihren kommerziellen Betrieb voraussichtlich im Jahr 2021 auf- nehmen. Eine weitere Größe in der Poly- merindustrie, die sich die Förde- rung des chemischen Recyclings zum Ziel gesetzt hat, ist BASF. „Mit dem neuen ChemCycling-Projekt von BASF wollen wir einen wesent- lichen Beitrag zur Wiederverwen- dung von Kunststoffabfällen als Rohstoff in der Produktion leisten“, erklärt ein Unternehmensvertreter. „In Zusammenarbeit mit unseren Kunden und Partnern konnten wir die ersten Pilotprodukte basierend auf chemisch recycelten Kunst- stoffabfällen entwickeln und her- stellen.“ BASF beteiligt sich außer- dem am PolyStyreneLoop-Projekt. In der aktuellen Projektphase wird eine Pilotanlage errichtet, in der eine lösungsmittelbasierte Recycling-Technologie zum Einsatz kommt. Mit ihr sollen Dämmstoffe aus expandiertem Polystyrol (EPS) wiederverwertet werden können. Anders als bestehende werkstoffli- che Recyclingverfahren könnte sich die Technologie auch für die Wie- derverwertung von Stoffen eignen, die früher verwendete und heute verbotene Flammschutzmittel be- inhalten. Anstieg der Biokunststoffe Welche Rolle spielen Biokunst- stoffe zukünftig in der Kreislauf- wirtschaft? Europa zumindest erweist sich als wichtiges Produk- tionszentrum für diese Materiali- en. Aktuelle Marktdaten, die von European Bioplastics (EUBP) (in Zusammenarbeit mit dem nova- Institut) erhoben wurden, zeigen, dass rund 20 % der weltweiten Produktionskapazität von Bio- kunststoffen – die 2018 bei 2,11 Mio. Tonnen lag – in Europa an- zusiedeln sind. Dank kürzlicher politischer Initiativen in mehreren EU-Mitgliedstaaten, insbesondere Italien und Frankreich, soll diese Zahl bis 2023 auf 27 % steigen. Es überrascht nicht, dass EUBP nach eigenen Angaben voll und ganz hinter dem Wandel Europas von einer Linearwirtschaft hin zu einer „lückenlosen“ biobasierten Kreislaufwirtschaft steht. „Doch in bestimmten Verordnungen, wie der SUP-Richtlinie zu Einwegkunst- stoff, wird das Potenzial von kom- postierbaren und als biologisch abbaubar zertifizierten Kunststof- fen nicht für die Fälle berücksich- tigt, in denen EU-Vorschriften für Hygiene und den Lebensmittel- kontakt erfüllt werden müssen, aber keine Mehrweglösungen ge- nutzt werden können“, so EUBP. „Schließlich ist die Förderung des organischen Recyclings ein Stütz- pfeiler der Kreislaufwirtschaft in der EU.“ Europäische Kunststoffindustrie: Aufs Beste hoffen, fürs Schlimmste wappnen

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